DIE VILLA MIT DEM ERKER

Der hellgrüne Sockel und die in gleicher Farbe gestrichene Holzwand leuchten von weitem. Sie bilden einen auffälligen Kontrast zu den dunkelgrünen Fensterläden und dem übrigen Erscheinungsbild des mehr als hundertjährigen Gebäudes im Heimatstil.

Die markante Villa mit dem eindrücklichen Walmdach ist Teil des Schlachthaus-Ensembles. Es wurde 1916 – mitten im ersten Weltkrieg – im Rahmen der zweiten grossen Schlachthof-Erweiterung als «Bureaugebäude mit Verwalterwohnung» gebaut – und als solches auch während Jahrzehnten genutzt. Architekt war der damalige Bieler Stadtbaumeister Henri Huser, der die bauliche Entwicklung Biels in den Wachstumsjahren von 1901 bis 1925 entscheidend mitgeprägt hat.

Die massive Holzwand ist neueren Datums. Sie schirmt die Westfassade des Hauses gegen die Salzhausstrasse und das Schlachthofareal ab. Eine metallene Eingangsschleuse mit Drehkreuzen versperrt den Zugang für Unberechtigte. Der Zutritt in den Innenhof ist nur mit einem Badge möglich. Von dort dringen nur vereinzelt Stimmen nach draussen, ein feiner Rauch steigt auf. Er stammt von einem Feuer, das an diesem Spätnachmittag im Januar den Anwesenden im Hof etwas Wärme spendet.

Wer hier an der Murtenstrasse 68 ein- und ausgeht, ist auf Diskretion angewiesen und weiss die gebotene Anonymität zu schätzen: Seit 2015 ist in der Schlachthofvilla die Anlaufstelle von «CONTACT Stiftung für Suchthilfe» untergebracht. «Wir bieten Raum für Menschen aus dem Raum Biel, Seeland und Berner Jura, die illegale Substanzen konsumieren – vor allem Kokain und Heroin», sagt Marc Hämmerli, seit 2016 Leiter des zehnköpfigen Betreuungsteams.

                                                                                                                                                                                                                                                                                                       © Beat Schertenleib / Contact

«Wir stellen diesen Menschen einen Ort zur Verfügung, wo sie sich aufhalten können und – was ganz zentral ist: Hier haben sie einen Raum, um ihre selbst mitgebrachten Opiate unter Aufsicht zu konsumieren», fährt Marc Hämmerli fort. «Dabei geht es um klassische Schadensminderung: Indem wir diesen Menschen, die oft auch soziale und gesundheitliche Probleme haben, einen Raum und Begleitung bieten, minimieren wir die Risiken, die für sie mit dem Drogenkonsum verbunden sind. Gleichzeitig leisten wir einen Dienst für die Öffentlichkeit: Dank der überwachten Konsumräume wird heute viel weniger auf der Strasse oder in Parks konsumiert.»

Wir sitzen im Dachgeschoss der ehemaligen Verwaltervilla, dem heutigen Sitzungszimmer der CONTACT-Mitarbeitenden. Das vorbeifahrende BTI-Bähnli sorgt regelmässig für leichte Erschütterungen, wenn es um die Ecke rattert werden unsere Stimmen jeweils automatisch etwas lauter.

 «Den Stoff gibt es bei uns nicht über die Theke. Die Besucher:innen bringen ihre Drogen mit, um sie hier zu konsumieren», betont Marc Hämmerli. «Einzig im Innenhof werden kleinste Mengen illegaler Substanzen gehandelt. Das ist eigentlich nicht legal und unsere Kollegen von der Polizei achten darauf, dass es nicht überbordet. Aber dadurch entlasten wir die Strassen und Parks von diesen oft lauten, auffälligen Machenschaften...»

Im ersten Stock der Villa sind die Büros der Mitarbeitenden und die Besprechungszimmer untergebracht, die ehemalige Küche der Verwalterwohnung wurde zum Pausenraum umfunktioniert. Die bunt gestrichenen Wände verleihen dem alten Gebäude einen frischen Ausdruck und täuschen leicht darüber hinweg, dass es doch das eine oder andere zu renovieren gäbe.

 

Nichtsdestotrotz betont Marc Hämmerli, das Haus sei viel mehr, als bloss ein zweckmässiges Arbeitsgebäude: «Es ist ein Ort, der lebt, wo es auch Durchzug hat, wo ab und an Wasser hineinläuft, wo es müffelet – aber es ist auch ein Ort, der viel Gutes verströmt und in dem sehr viel positive Energie drinsteckt.»  

Für Marc Hämmerli, der in Bern wohnt und für die Arbeit nach Biel pendelt, ist die Murtenstrasse 68 noch aus einem weiteren Grund ein besonderer Arbeitsort, wie er gleich zu Beginn des Gesprächs erzählt hat: «Mein Vater stammt aus der Gegend – Hämmerli ist ein Seeländergeschlecht. Als wir Kinder waren, kam er öfter mit uns nach Biel und parkte das Auto hier im Quartier. Schon damals ist mir dieses Haus aufgefallen, wegen des schönen Erkers. Damals hätte ich mir nie träumen lassen, dass genau dieser Erker dreissig Jahre später mein Büro sein wird...»

Die Stiftung CONTACT mietet das Haus und den geschützten Innenhof von der Stadt Biel. Im Erdgeschoss hat man vor sieben Jahren bauliche Anpassungen für die Nutzung als Konsumationsort vorgenommen, ansonsten wurde und wird nur das Notwendigste für den Unterhalt gemacht. Denn eigentlich war der Abbruch der Villa vorgesehen, weil sie dem geplanten Autobahn-Westast im Weg stand. Der Fall war klar: Autobahn vor Denkmalschutz. Nun, da die Autobahn vom Tisch ist, bekommt die Denkmalschutz-Frage neues Gewicht. Allerdings gibt es bisher keine verlässlichen Aussagen zur Zukunft.

 

«Wir möchten gerne bleiben», sagt Marc Hämmerli. «Wir geben uns Mühe, das Haus möglichst gut zu unterhalten, damit es weiter funktioniert und versuchen auf politscher Ebene aufzuzeigen, dass es schwierig wäre, einen neuen Standort zu finden. Wir können nicht einfach umziehen, wie ein Gewerbebetrieb – und wenn wir keinen neuen passenden Standort finden, besteht die Gefahr, dass es in Biel eines Tages keine Anlaufstelle mehr gibt.»

Dies wäre ein unverständlicher Rückschritt, den niemand will. Die Stiftung CONTACT mit ihren verschiedenen Angeboten für Menschen mit Suchtmittel- und psychosozialen Problemen ist eine wichtige Institution und ihre Anlaufstelle an der Murtenstrasse aus dem Leben der Stadt nicht mehr wegzudenken.

Dort sind gegenwärtig rund 300 Klientinnen und Klienten registriert. Die meisten von ihnen sind Männer mittleren Alters – der Frauenanteil beträgt bloss 20 Prozent. Viele konsumieren seit 25 Jahren oder länger illegale Drogen und haben noch die offene Drogenszene der 1980er und 90er Jahre miterlebt. Ihre Körper sind vom langjährigen Konsum gezeichnet, oft leben sie am Rand der Gesellschaft. Umso wichtiger ist für sie die niedrigschwellige Hilfe, die sie in der Schlachthof-Villa erhalten. Viele von ihnen kommen täglich, andere regelmässig – etwa einmal pro Woche oder pro Monat, und manche tauchen ab und an mal auf, wenn sie einen Absturz hatten und für kurze Zeit wieder illegale Substanzen konsumierten, erzählt Marc Hämmerli.

«Die Lage der Anlaufstelle mit dem Eingangsportal an der Salzhausstrasse ist ideal», betont deren Leiter. Zentral gelegen und mit einem Umfeld, das sich an die Anlaufstelle gewöhnt hat. Dank der Aktivitäten der IG Schlachthof Kulturzentrum sei in den letzten Monaten mehr Leben auf das Areal gekommen. Das sei gut so, sagt Hämmerli und fügt an: «Ich bin gespannt, wie es sich weiter entwickelt. Dass Kultur und Veranstaltungen mehr Leute hierherbringen, ist auch in unserem Interesse: Je mehr hier geschieht, desto weniger Raum hat es für das Schattenweltliche. Zudem ist es cool, eine Nachbarschaft zu haben, in der sich etwas bewegt... »

 

© Gabriela Neuhaus, IG Schlachthof Kulturzentrum 2022 

Alle Bilder aus den Räumlichkeiten und dem Innenhof der CONTACT-Villa wurden aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes ausserhalb der Betriebszeiten aufgenommen.

 

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