FLEISCH FÜR BIEL

Der Bieler Schlachthof und seine Geschichte

Mitte September 2022 — Ortstermin auf dem Schlachthof Biel. Es ist Samstagnachmittag, die Herbstsonne taucht das Areal in sanftes Licht. Seifenblasen tanzen über das Gelände, Kinder spielen, fröhliches Stimmengewirr,    Musikklänge. Vor dem Eingang zur ehemaligen Schlachthalle hat Friendly Kitchen seine mobile Küche aufgebaut. Schon bald steigen aus Töpfen und Pfannen verführerische Düfte. Die Hobbyköchinnen und -köche überraschen ihre Gäste mit Köstlichkeiten von verschiedenen Kontinenten: Es gibt Chili sin carne, tibetanische Momos, gefüllt mit Gemüse, Gemüseeintopf nach peruanischen und philippinischen Rezepten, ukrainischen Borscht, Schweizer Gerstensuppe... eine kulinarische Weltreise, ganz ohne Fleisch. Anlass dafür ist ein spezielles Jubiläum: Genau 30 Jahre ist es her, seit im Bieler Schlachthof das letzte Tier geschlachtet wurde.

Angefangen hat die Geschichte des städtischen Schlachthofs Biel mit einem Verbot, welches 1869 das Schlachten von Schweinen in den öffentlichen Gassen untersagte. Wie in anderen Städten der Schweiz, wollte man mit dem Bau eines öffentlichen Schlachthofs erreichen, dass das Schlachten von Tieren kontrolliert und unter den notwendigen hygienischen Bedingungen stattfindet. Für den Bau des Schlachthauses kaufte die Stadt Biel ein Stück Land «bei der Sandbrücke», das damals am Stadtrand lag. Dank der Madretschschüss, die das Areal durchquert, war auch die für den Schlachtbetrieb wichtige Wasserversorgung gewährleistet.

Im Sommer 1877 nahm das städtische Schlachthaus seinen Betrieb auf. Für dessen Leitung wählte die Stadtregierung einen Schlachthofverwalter, der sowohl für die Liegenschaft wie für das Personal, die Hygiene und die Qualität des Fleisches in der Stadt Biel verantwortlich war. Artikel 5 des Schlachthofreglements bestimmte: «Jeder Metzger, der innerhalb der Gemeindemarke von Biel wohnt, oder daselbst sein Gewerbe betreibt, ist verpflichtet, die Abschlachtung sämtlicher Tiere im Gemeinde-Schlachthause vorzunehmen.» Bevor das Fleisch von den Tieren, welche die Metzgermeister und ihre Gehilfen im Schlachthof töteten, das Areal verlassen konnte, wurde es einer akribischen Fleischschau unterzogen. Trotz zahlreicher Veränderungen und Umstrukturierungen im Lauf der Zeit, blieb diese Fleischkontrolle stets die zentrale Aufgabe des städtischen Schlachthofs. «Die Fleischschauer haben jeden Tierkörper, jedes Organ auf krankhafte Veränderungen untersucht. Erst wenn alles in Ordnung war, drückte man den ovalen Stempel auf den Schlachtkörper und gab ihn damit frei für den normalen Verkauf», fasst der Veterinärmediziner Robert Wyss zusammen. Als letzter Schlachthofverwalter von Biel war er während seiner Amtszeit von 1985 bis 1992 für die Fleischqualität in seiner Heimatstadt verantwortlich.

Bis Ende der 1980er Jahre gab es nebst dem ovalen auch noch einen dreieckigen Stempel – für Fleisch, das zwar geniessbar war, aber nicht die erforderlichen Qualitätskriterien für den Verkauf beim Metzger erfüllte. Dieses sogenannte Freibankfleisch wurde direkt ab Schlachthof zu einem billigeren Preis verkauft. «Wenn wir genügend Freibankware zusammen hatten, schalteten wir ein Inserat im Bieler Tagblatt und gaben darin bekannt, wann das Freibankfleisch verkauft wird», erzählt Wyss. Oft seien die Leute schon vor Ladenöffnung in der Salzhausstrasse Schlange gestanden, um sich so ein Stück Fleisch zu ergattern, erinnert sich Ueli Schärrer, der in den 1970er Jahren selber für kurze Zeit auf dem Schlachthof arbeitete, und dessen Mutter regelmässig Kundin im Freibankladen war: «Mit dem geringen Einkommen meiner Eltern konnten wir uns kein anderes Fleisch leisten.»

Erweiterungen und Erneuerungen

Schon kurz nach seiner Eröffnung platzte der Schlachthof aus allen Nähten: Bereits in den 1880er Jahren kam eine neue Schlachthalle dazu, deren verschnörkelte Fassade mit der metallenen Munikopf-Skulptur zum Wahrzeichen des Bieler Schlachthofs wurde. Anfang des 20. Jahrhunderts folgte anstelle der alten Stallungen ein grosses Kühlhaus entlang der Salzhausstrasse sowie ein neues Verwaltungsgebäude mit einer Wohnung für den Schlachthofverwalter. Diese drei Liegenschaften bilden bis heute das Herzstück des Schlachthofareals. Die kantonale Denkmalpflege hat sie anlässlich der Revision des Bauinventars 2022 in die Liste der schützenswerten Bauten aufgenommen, unter anderem mit der Begründung, dass es sich beim Bieler Schlachthof um «die älteste erhaltene Schlachthof-Grossanlage» im Kanton handelt, die auch schweizweit von Bedeutung sei. Der Städtebauexperte Han van de Wetering weist zudem auf die besondere städtebauliche Setzung der Anlage hin (verkehrstechnisch zentral und ursprünglich am Rand des Stadtkörpers), die bei der künftigen Entwicklung des Quartiers unbedingt zu erhalten sei.

Im Lauf der Jahre folgten weitere Ausbauten und Modernisierungen wie etwa in den 1920er Jahren ein neuer Gleisanschluss für den Import von ausländischem Vieh, in den 1930er Jahren eine Dampfkesselanlage mit Hochkamin (welcher 2014 aus Sicherheitsgründen abgebrochen wurde), sowie immer wieder Erweiterungen und Modernisierungen der Schweineschlachtanlage, der Darmerei und der Kuttlerei. Anfang der 1930er Jahre wurde zudem die Madretschschüss in den Untergrund verbannt, um zusätzlichen Arbeitsraum zu gewinnen.

Bis Mitte der 1960er Jahre prägten die privaten Metzgermeister aus Biel und der Region den Arbeitsrhythmus auf dem Schlachthof. Noch in den 1950er Jahren gab es in der Stadt Biel über 50 Metzgereibetriebe. Sie alle, wie auch Metzger von umliegenden Gemeinden, schlachteten die Tiere, deren Fleisch sie anschliessend in ihren Betrieben verarbeiteten und verkauften, auf dem städtischen Schlachthof. Kurt Luginbühl, langjähriger Metzgermeister und 30 Jahre lang Präsident des Metzgermeistervereins Biel, erinnert sich: «Als ich 1963 mit der Lehre begann, gab es pro Jahrgang eine eigene Klasse für die Metzgerlehrlinge, weil wir soviele waren. Damals haben wir die Tiere auf dem Boden geschlachtet und dort auch den Blutentzug gemacht, bevor wir sie aufhängten. Die Haut haben wir mit einem Messer abgezogen – das war eine heikle Sache, man musste aufpassen, dass man sie nicht verletzt...» An Schlachttagen hätten sich die Traktoren und Viehwagen, mit welchen die Bauern ihre Tiere zur Schlachtbank führten, in der Salzhausstrasse gestaut. «Am Montag war jeweils der Schlachttag für die Schweine. Jeder Metzger hatte eine eigene Nummer, die auf dem Tier vermerkt wurde. So konnte jeder seine Stücke wiedererkennen und nach der Schlachtung nachhause mitnehmen.» Fritz Marthaler, ehemaliger Metzgermeister und wie Kurt Luginbühl Sohn einer Bieler Metzgerdynastie, erinnert sich, wie er als Kind seinen Vater begleitete, wenn dieser bei den Bauern der Region die Tiere einkaufte. Nach deren Schlachtung habe man das Fleisch dann jeweils mit einem «Brügiwagen» durch die Murtenstrasse in die väterliche Metzgerei an der Zentralstrasse transportiert. «Da ist es schon mal vorgekommen, dass eine Sauhälfte unterwegs aufs Trottoir gerutscht ist und wir sie wieder auflesen mussten», erzählt er mit einem leisen Schmunzeln.

Bahnbrechende Veränderungen

Das Aufkommen der Grossverteiler verdrängte die gewerblichen Metzgereien immer mehr vom Markt. Der Bieler Metzgermeisterverein vermerkte bereits in seiner Jubiläumsschrift aus dem Jahr 1959: «Jedes Warenhaus sucht in den Fleisch- und Wurstmarkt einzusteigen. In unserem Verein wurden einzelne Betriebe verkauft oder machten andern Geschäften Platz. Die Selbstständigen werden weniger, aber auch leistungsfähiger.» Diese Entwicklung hatte auch Folgen für den Betrieb auf dem Schlachthof. «Ursprünglich war der Ist-Zustand so, dass am Montagmorgen jeder Metzger ins Schlachthaus kam, seine Säuli geschlachtet und dann bis am Mittag herumgeplaudert hat – das konnte so nicht mehr weitergehen» erzählt Hans Graf. Der ehemalige Metzgermeister mit eigenem Geschäft in Mett war Ende der 1960er Jahren vom Verband mit der Modernisierung des Schlachtbetriebs beauftragt worden. Nach Recherchen in anderen Städten kam er zum Schluss: «Wir müssen die Bodenschlachtungen verlassen – das ist nicht mehr zeitgemäss und auch nicht gewinnbringend.» Deshalb schlug Graf den Einbau einer Hängendschlachtbahn und die Einführung eines Regiebetriebs vor. Gleichzeitig verhandelte man mit der Born AG, einer Tochtergesellschaft von Bell (Coop), die bereits seit einigen Jahren auf dem Schlachthof Biel eingemietet war und einen wachsenden Bedarf an Schlachtkapazitäten hatte. Dies nicht zuletzt, weil sie zunehmend auch gewerbliche Metzger in der Region Biel belieferte, die immer öfter darauf verzichteten, selber zu schlachten. So schlossen die wachsende Born AG, die Metzgermeister und die Stadt Biel einen Deal, wie Kurt Luginbühl zusammenfasst: «1975 hat die Stadt noch einmal in den Schlachthof investiert und eine moderne Hängendschlachtbahn eingebaut. Das hatte zur Folge, dass die Metzgereien nicht mehr ihre eigenen Mitarbeiter in den Schlachthof schickten, fortan schlachteten Spezialisten für uns. Das war praktisch und erleichterte uns manches.»

Die Neuorganisation führte zu einer enormen Steigerung der Schlachtkapazitäten: «Mit der neuen Anlage konnten wir pro Stunde 120 Schweine schlachten, beim Grossvieh waren es 25 bis 30 Tiere in der Stunde, bei den Kälbern 35 bis 40», erinnert sich der pensionierte Metzger und Schlachter Jean-Louis Burkhardt, der von 1969 bis 1992 als städtischer Angestellter auf dem Schlachthof arbeitete. «Es gab rund zehn Arbeitsstationen, wo die Schlachter auf einem Podest standen, jeder hatte eine klar definierte Aufgabe im Schlachtablauf und machte immer das Gleiche. Die Routine sorgte dafür, dass es immer schneller ging.» Die Zahl der getöteten Tiere im Schlachthof Biel schnellte mit der Einführung des Regiebetriebs in die Höhe: Während 1965 erstmals die Zahl der geschlachteten Tiere über 20'000 stieg, waren es 1991 – im letzten vollständigen Betriebsjahr – mit über 50'000 Tieren mehr als doppelt so viele.

Das Ende

Trotzdem ging es mit dem Schlachthof Biel ab Mitte der 1980er Jahre rapide bergab. Als Robert Wyss 1985 die Leitung des Betriebs übernahm, stellte er fest, dass die Hängendschlachtbahn zwar gut funktionierte, drumherum aber vieles im Argen lag: Die Stadt hatte den Unterhalt der Gebäude schon seit Jahren vernachlässigt und die Kühlanlagen waren in die Jahre gekommen. «Um den Schlachtbetrieb in Biel längerfristig zu sichern, hätte man fünf bis sechs Millionen investieren müssen», sagt Wyss. Das Kuttlereigebäude war in einem derart erbärmlichen Zustand, dass dessen Betrieb 1990 auf kantonales Geheiss eingestellt werden musste. Der Bieler Gemeinderat hatte sich bereits zuvor gegen eine längerfristige Weiterführung des Schlachtbetriebs ausgesprochen, am 26. April 1990 besiegelte schliesslich der Stadtrat mit der Aufhebung des Schlachthofreglements das Ende des städtischen Schlachthofs.

Damit waren die Würfel gefallen. Dies, obschon es auch eine breite Opposition gegen die Schliessung gab. Die Metzgermeister Fritz Marthaler und Kurt Luginbühl hatten sich bis zum Ende vehement gegen die Betriebseinstellung engagiert. Ihr Hauptargument: Wenn in Biel nicht mehr geschlachtet wird, werden die Transportwege länger – Tiere müssen fürs Schlachten aus dem Seeland nach Oensingen verfrachtetet werden, das Fleisch muss wieder zurück nach Biel, was sowohl gegen das Tierwohl wie auch unökologisch ist. – Argumente notabene, die aus heutiger Sicht durchaus modern klingen. Trotzdem hatten sie keine Chance. Robert Wyss zieht dreissig Jahre nach der Einstellung des Schlachtbetriebs in Biel Bilanz: «Der Entscheid für die Schliessung war richtig. Auch wenn man die fünf bis sechs Millionen noch investiert hätte, wäre der Bieler Schlachthof ein paar Jahre später eingegangen: Mit einer Schlachtkapazität von rund fünf Millionen Kilogramm pro Jahr war er einfach zu klein, um kostendeckend zu wirtschaften.»

Städtische Schlachthöfe von mittlerer Grösse gibt es heute in der Schweiz keine mehr. Geschlachtet wird vornehmlich in einigen wenigen Grossbetrieben, die Konzernen wie Migros oder Coop gehören. Daneben erfahren aktuell kleine gewerbliche Metzgereien auf dem Land einen Aufschwung, sowie Schlachtungen auf Bauerhöfen, wo die Produzenten ihre Kundschaft explizit mit regionalem Fleisch versorgen.

In Biel gibt es dreissig Jahre nach dem Ende des Schlachtbetriebs gerade noch zwei klassische Metzgereien. Die Metzgerei der Familie Marthaler-Christen ist Geschichte, genauso wie jene von Kurt Luginbühl. Er hat zusammen mit seiner Frau, parallel zum Betrieb, den er von seinem Vater geerbt hatte, ein Cateringunternehmen aufgebaut, das sein Sohn nun weiterführt. Die Metz-gerei wurde aufgegeben, das Schlachten sowieso.

Fritz Marthaler engagiert sich seit seiner Pensionierung in der Metzgerei, die einst sein Grossvater in Täuffelen aufgebaut hatte. Heute wird das Geschäft von einem jungen Metzger geführt, der das Fleisch fertig zugeschnitten bezieht. Er wirbt mit einem Angebot an «regionalem Fleisch aus artgerechter Tierhaltung», produziert eigene Würste und verkauft auch Vegiburger und vegane Produkte – eine Entwicklung, die man respektieren müsse, resümiert Fritz Marthaler: «Die Zeiten ändern sich. Mein Vater sagte einst:  ‘Es gibt zum Zmittag Fleisch und zum Znacht Fleisch’ – wir assen zweimal am Tag Fleisch, das ergibt in der Woche 14 Mahlzeiten mit Fleisch. Wir kannten damals nichts anderes. Heute bin jedoch auch der Meinung dass drei- bis viermal Fleisch pro Woche durchaus reichen.»

Die Zeiten haben sich geändert. 30 Jahre nach der letzten Schlachtung, regt sich neues Leben auf dem Schlachthofareal: Nachdem man jahrelang davon ausgehen musste, dass der Bieler Schlachthof der Westastautobahn und deren Anschluss Bienne-Centre weichen muss, besteht heute die Chance, dass die historischen Gebäude erhalten bleiben. An Ideen für deren künftige Nutzung mangelt es nicht – das grosszügige Areal mit den charakteristischen Gebäuden hat Potenzial: Hier gibt es an zentraler Lage viel Raum für Kreativität und Entwicklung von Neuem. Eine Chance für die Stadt Biel, die ganze Region und darüber hinaus, die nicht verpasst werden darf...

© Gabriela Neuhaus, 2022

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