SCHLACHTHOF – HOME OF SOUNDS

Das zweistöckige Hüsli wirkt neben den imposanten ehemaligen Schlachthallen fast unscheinbar. Auf einem Schild steht «Tybolin Hygiene» – ein Relikt aus der Zeit, als hier ein gewisser K. Althaus ein Unternehmen zur «Herstellung von Schädlingsbekämpfungs-, Pflanzenschutz- und Desinfektionsmitteln» betrieb. Die Firma wurde 2009 infolge Geschäftsaufgabe aus dem Handelsregister gelöscht.

Seither hat sich im alten Haus ein Verein eingemietet, der sich – da das Schild nun schon mal an der Fassade angebracht war – ebenfalls Tybolin nennt. Allerdings ist der Name das Allereinzige, was die heutigen Nutzerinnen und Nutzer des Häuschens mit dessen Geschichte verbindet. Seit über zehn Jahren nämlich füllen Musikerinnen und Musiker die alten Wände mit ihren Klängen.

Die Freejazzer, die den Verein gegründet haben, wollten hier ursprünglich nicht nur ein Übungs- sondern auch ein Konzertlokal einrichten. Obschon dies (vorläufig) ein Traum geblieben ist, hat sich das Haus seither zu einem Zentrum der Bieler Musikszene entwickelt.

Das Erdgeschoss, wo sich, als der Schlachthof noch in Betrieb war, der «Fremdviehstall» befand, teilen sich heute rund ein halbes Dutzend Bands und einzelne Musiker:innen als Übungsraum und Aufnahmestudio. Darunter ist Dominik Baumgartner – kurz Boumi.

Mit seinen Schlagzeugrhythmen hatte er uns Anfang Dezember anlässlich des Rundgangs mit Finanzdirektorin Silvia Steidle ins Hüsli gelockt. Bei dieser Gelegenheit kamen wir erstmals ins Gespräch und haben gleich einen Termin für einen längeren Besuch abgemacht.

Es ist schon dunkel, als ich in den Innenhof einbiege. Aus dem einzigen Fenster in der Nordfassade des Tybolin-Hauses dringt warmes Licht auf das Schlachthofareal. Pro forma klopfe ich an die Tür, bevor ich die Türfalle drücke. Eigentlich ist klar, dass mich Dominik nicht hören kann: Er sitzt wiederum am Schlagzeug und versucht, die Kälte mit heissen Reggearhythmen zu vertreiben.

Für unser Gespräch rücken wir ganz nah an den Elektroofen, um zumindest einen Hauch von Wärme zu ergattern. Richtig heizen lässt sich der Raum nicht, weshalb er im Winter weniger begehrt ist als in wärmeren Jahreszeiten. Seit Corona sei es eh ruhig geworden, sagt Dominik. Manche Musiker und Bands habe er schon seit Monaten nicht mehr angetroffen.

 

Trotzdem sind sie alle im Raum präsent: Die Wände sind gepflastert mit Fotos und Plakaten, überall stehen Schlagzeugbatterien und weitere Instrumente – Verstärker, Mischpulte, CDs, Noten... alles zeugt von einem vielfältigen Musik- und Stilmix, der hier gelebt wird.

Dominik versucht, mir einen Überblick zu geben über die Bands, die ihre Wurzeln hier haben, darunter so bekannte Namen wie Brandy Butler oder Kevin Chesham, der mit seiner Schlagzeugbatterie seit über zehn Jahren hier eingemietet ist. Aber auch Hotcha und seine legendäre «Pull My Daisy» oder Pesche mit seiner Band «Angel Maria Torres y sus ultimos Mamboleros» – diese haben vor ein paar Jahren riesige Erfolge gefeiert, weil sei in eine echte Marktlücke vorgestossen seien, erzählt Dominik. Ob und wie oft sie aktuell noch in Aktion sind, weiss er nicht. Wie so viele Bands, hat Corona auch die Mamboleros von der Bühne gefegt. Die einzige Band, die im Moment regelmässig einmal pro Woche hier probe, seien die Römerquells. Im oberen Stock haben zudem ein Saxofonist und Maler sowie ein weiterer Schlagzeuger je einen Raum gemietet. Zudem gibt es dort auch noch eine grosse Dachterrasse mit Potenzial – bisher aber kaum genutzt...

«Momentan sind Kevin und ich die einzigen Profimusiker im Hüsli» fährt Dominik in seiner Vorstellungsrunde fort. Sie kennen sich noch von der Jazzschule in Bern, die sie gleichzeitig absolviert haben. Heute spielen sie gemeinsam in verschiedenen Jazzformationen, so etwa bei «Meta Marie-Louise» mit Kevin am Schlagzeug, Dominik an der Gitarre und Manuel Engel am Keyboard. Kürzlich hat Dominiks eigene Band «Treeonius» – wiederum mit Kevin am Schlagzeug und Valentin von Fischer am Kontrabass, im Übungslokal ein Album eingespielt. «Der Raum eignet sich mit seiner Akustik wunderbar als Studio – hier wurden schon viele Aufnahmen gemacht», sagt Dominik. Ein Vorteil sei auch, dass der Raum sieben Tage in der Woche rund um die Uhr genutzt werden könne.

Das Mit- und Nebeneinander der verschiedenen Nutzerinnen und Nutzer funktioniere eigentlich sehr gut. Zwar müsse man immer wieder darauf achten, dass der Raum nicht als Abstellkammer für Nichtmehrgebrauchtes missbraucht werde, und auch die Sauberkeit lasse ab und zu zu wünschen übrig, meint Dominik. Allerdings hätten diesbezüglich alle mehr oder weniger die gleich bescheidenen Ansprüche, und ein wenig Chaos sei besser als ein auf Hochglanz geputzter, steriler Raum. Fürs Gröbste steht immerhin ein rotglänzender Staubsauger zur Verfügung der dafür sorgt, dass der Staub im alten Gebäude nicht überhandnimmt.

Dominik – von Haus aus Gitarrist – hat sich seit 2014 im Tybolin-Haus eingemietet, weil er sich damals ein Schlagzeug zugelegt hat. Gitarristen bräuchten nicht unbedingt ein lärmisoliertes Übungslokal, meint er lachend, Schlagzeuger besser schon. Neues lernen, nennt er als Grund, weshalb er ab und zu die Gitarre beiseitelegt, um mit dem Schlagzeug den Reggae-Rhythmen auf die Spur zu kommen. «Als ich noch Rastalocken hatte und kiffte, gab es für mich nur Jazz – Reggae hat mich lange nicht interessiert», holt Dominik aus. Im Chessu habe es ihm dann aber eines Tages in Sachen Reggae den Ärmel reingenommen – seither sei er ein grosser Reggae-Liebhaber, was ihn zum Lernen des Schlagzeugspiels animiert habe.

 

«Diesen Raum schätzen wir alle sehr», antwortet er auf die Frage, was das Tybolin-Haus für ihn bedeute. Nicht nur, dass man hier mit Gleichgesinnten Musik machen und rund um die Uhr spielen kann, ohne dass sich jemand gestört fühlt, auch die Nähe zum Bahnhof sei praktisch, gerade für Kollegi:innen, die von auswärts kommen. Wenn man ein Konzert habe, sei es einfach, mit dem Auto vorzufahren und das notwendige Material zu laden – und last but not least ist der Mietpreis attraktiv: Jede Mietpartei bezahlt gerade mal 50 Franken im Monat – fürs ganze Haus zahlt der Verein der Liegenschaftsverwaltung monatlich 400 Franken.

Und die Zukunft? Dominik freut sich, dass das Schlachthofareal kulturell weiter belebt werden soll. Es sei eine schöne Überraschung gewesen, als da eines Tages Leute vor ihrer Haustür Boule gespielt und Musik aufgelegt hätten... Die Ideen rund um das Areal, wie die Madretschschüss wieder ans Tageslicht holen und etwas zu schaffen wie etwa den Elfenaupark, mit einem Bistro wie auf der Gurzelen, gefallen ihm. Und nicht zuletzt die Vorstellung, sobald es wieder wärmer wird, die Instrumente einmal auf den Platz vor dem Haus zu holen und dort einen Gig zu veranstalten...

Dafür wäre auch Musikerkollege Dänu Werder zu begeistern. Er gehört zu den Mietern der ersten Stunde und fungiert heute als «Patron» des Vereins. «Mit all den Bands und Musikern, die hier eingemietet sind, könnten wir schon ein kleineres Festival auf die Beine stellen», meint er lachend. Great Expectations, für den Sommer 2022!

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