Doris Carnal dreht den Schlüssel und schiebt das metallene Eingangstor auf. Dahinter öffnet sich ein hoher, schmaler Raum. Licht fällt durch das Glasdach auf ein Sammelsurium von Brettern, Farbkübeln, Mettallgerüsten, Werkzeugen. Wohin das Auge blickt: Material, Material, Material…
Die Wände der als Lager genutzten einstigen Schlachthalle auf dem Schlachthofareal der Stadt Biel sind weiss gekachelt, der Boden aus massiven Betonplatten. «Hier im Eingangsbereich war die Pferde-Notschlachtung», erzählt Frédéric Carnal. Ein paar Schritte weiter öffnet er die Tür zu einem dunklen Nebenraum und macht das Licht an. Regale voller Werkzeuge und Verbrauchsmaterial, bunt gemischt. Nur das Ehepaar Carnal weiss, was wo zu finden ist. Einst war hier die Zerlegerei, wo Schlachthof-Angestellte an grossen Tischen die Fleischstücke portionierten.
Das ist längst Geschichte: Am 30. September 1992 wurde der Schlachtbetrieb hier für immer eingestellt. Der Zufall wollte es, dass Doris und Frédéric Carnal kurz zuvor mit dem Vermieten von Tischen, Bänken und Festzelten angefangen hatten und auf der Suche nach Lagerräumen für ihr umfangreiches Material waren.
Bei der Bieler Liegenschaftsverwaltung wies sie ein Mitarbeiter auf die soeben leer gewordenen Schlachträume hin. Ein idealer Lagerort für die Jungunternehmer, zentral gelegen und mit genügend Raum für das Trocknen der grossen Zeltblachen. Allerdings machte die Stadt von vornherein klar, dass die Räumlichkeiten wegen der geplanten Autobahn für maximal vier Jahre zur Verfügung stehen würden und deshalb weder Renovations- noch Unterhaltsarbeiten vorgesehen seien.
Doris und Frédéric Carnal liessen sich davon nicht abschrecken. Fast dreissig Jahre später lachen sie über die damaligen Vorgaben: Denn immer wieder von neuem wurde ihr Mietvertrag um zwei, drei Jahre verlängert. Mit der Zeit musste die Stadt auch die elektrischen Installationen erneuern, das Dach wurde zweimal geflickt. Allerdings nur notdürftig, um das Regenwasser abzuhalten. Dabei ersetzte man die zerbrochenen Glasscheiben durch Wellblech.
«Wir waren die ersten auf dem grossen Areal und alleine», erinnert sich Frédéric Carnal. Fast alleine: Im ehemaligen Verwaltungsgebäude, der Villa an der Murtenstrasse 68, war der Sitz der im Hinblick auf die Schlachthofschliessung gegründeten H.R. Marbot AG. Der ehemalige Metzgermeister Hansruedi Marbot leitete dort im Auftrag des Bieler Metzgermeister-verbandes das Verteilzentrum für ausländisches Fleisch. Zudem betrieb er auf dem Areal eine Kadaversammelstelle und vermietete einen Teil der ehemaligen Schlachthof-Kühlräume an Bieler Metzger.
Nach und nach vermietete die Stadt weitere Räume. Ein Teil der Kühlräume im Souterrain der Murtenstrasse 70 heissen jetzt «Cave des Gourmets» und dienen als Weinkeller. Der ehemaligen Schweine-Zerlegeraum verwandelte sich in ein Künstleratelier. Handwerker und Händler packten die Gelegenheit und liessen sich in grossen und kleinen Räumen und auf dem grossen Aussenplatz des ehemaligen Schlachthofs nieder. Da war etwa der Motorenöl-Händler, der nach ein paar Jahren und der Aufgabe seines Geschäfts den Raum an einen Altpneuhändler aus Benin untervermietete. Oder das Malergeschäft, das immer wieder mal fallierte; weiter ein Fotograf, der sich nach seiner Rückkehr aus Kuba mit seinem Caravan vorübergehend auf dem Gelände niederliess und schliesslich die Fastnachtsclique, die ihre Utensilien hier zwischenlagert…
So entwickelte sich der ehemalige Schlachthof über die Jahre zu einem eigenen Kosmos, dessen Nutzerinnen und Nutzer immer wieder wechselten. Doris und Frédéric Carnal könnten endlos Geschichten über «ihr» Schlachthofareal erzählen, man könnte stundenlang zuhören…
Heute belegen sie mit ihrem Zelt- und Eventmateriallager rund 400 Quadratmeter in den Räumlichkeiten der ehemaligen Grossviehschlacht und ‑kühlhalle. Frédéric und Doris führen uns in das Herzstück des Lagers, im hinteren Teil der Gebäude:
Wir betreten einen grossen Raum, auch dieser von stattlicher Höhe. Von der Decke hängen weisse Zeltblachen. Auf den Gestellen entlang der Wände ebenfalls Blache um Blache. Aber auch ein nostalgisches Sofa, eine Schatztruhe, ein alter Kochherd… Mit der Zeit ist der Fundus ständig gewachsen. Manches stammt aus Liquidationen und Versteigerungen, anderes sind Erbstücke.
Alles könnte irgendwann irgendwo Verwendung finden. Denn Kundinnen und Kunden haben immer wieder Spezialwünsche, was die Möblierung der Zelte anbelangt. Bevor die Coronapandemie auch ihr Business stoppte, reisten Carnals vor allem in der Sommersaison Wochenende um Wochenende mit Zelten und Eventmaterial wie ein Zirkus von Ort zu Ort. Obschon sie damit grossen Erfolg hatten, blieb das eigene Zeltvermietungsunternehmen für Frédéric Carnal jedoch stets ein Zweitjob: Während der Woche arbeitet der gelernte Maurer seit jeher auf dem Bau.
Die Zeltvermietung sei ein wunderbarer Kontrast dazu, sagt er. Und seine Frau ergänzt: «Überall wo wir hinkommen, sind die Leute in Festlaune. Wir geniessen die vielen direkten Kontakte und hatten immer wieder faszinierende, spannende Begegnungen.»
Nun hofft das Ehepaar Carnal, dass der Corona-Spuk bald vorbei ist und die Zeltvermietung wieder in Schwung kommt. Gerne würden sie das Geschäft noch ein paar Saisons weiter betreiben – und bis dahin natürlich auch die Lagerräume auf dem Schlachthofareal weiternutzen. Jetzt, wo die jahrelang angekündigte Demolierung des Schlachthofs für eine Autobahnschneise vom Tisch ist.
Gleichzeitig begrüssen sie die Idee, dass hier neues Leben einziehen könnte und teilen das Anliegen, dass die historischen Bauten gesichert und renoviert werden sollen. «Eigentlich hätte man vor 30 Jahren das gesamte Areal mieten und für kulturelle Nutzungen instand setzen sollen», sinniert Frédéric Carnal. Gedankenspiele, Träume die erst jetzt wieder aktuell werden… Fest steht: Auf einem solcherart genutzten Gelände würde sich auch für Carnals ein Platz finden lassen, während dies bei einem Verkauf des Grundstücks an Immobilienhaie mit Sicherheit ausgeschlossen werden könnte.