REISE IN DIE VERGANGENHEIT

Für die meis­ten Be­su­che­rin­nen und Be­su­cher ist das Bie­ler Schlacht­hof-Areal Neu­land. Gerne lässt man sich dort vom un­be­kann­ten Ge­lände, den alt­ehr­wür­di­gen Ge­bäu­den rund um den In­nen­hof, der gross­zü­gi­gen An­lage in­spi­rie­ren und zu Zu­kunfts­vi­sio­nen ver­lei­ten. Wer hat es in den letz­ten Jahr­zehn­ten schon ge­wagt ei­nen Fuss auf das als Un­ort ver­brämte Ge­lände zu set­zen? Ein Ort ohne Zu­kunft, dem Ab­bruch ge­weiht für eine Au­to­bahn. Das hat sich seit ein paar Mo­na­ten plötz­lich ge­än­dert. Gerne lässt man sich heute vom un­be­kann­ten Ge­lände, den alt­ehr­wür­di­gen Ge­bäu­den rund um den In­nen­hof, der gross­zü­gi­gen An­lage in­spi­rie­ren und zu Zu­kunfts­vi­sio­nen verleiten.

Ganz an­ders Jean-Louis Burk­hardt. Für ihn gab es bei sei­nem Be­such an­läss­lich des Info-An­las­ses vom 29. Mai auf dem Schlacht­hof­areal nichts Neues zu ent­de­cken. Aus­ser viel­leicht dem trau­ri­gen Zu­stand der Ge­bäude, in de­nen er 23 Jahre lang mit En­ga­ge­ment und Lei­den­schaft sei­nen Be­ruf aus­ge­übt hatte.
Der An­blick der her­un­ter­ge­kom­me­nen Fas­sa­den und der Risse in den Mau­ern weckt un­gute Er­in­ne­run­gen. Plötz­lich kom­men der Frust und die Ent­täu­schung über das von der Po­li­tik er­zwun­gene Ende des Schlacht­be­triebs vor bald 30 Jah­ren wie­der hoch. «1992 hat man uns raus­ge­wor­fen und ge­sagt, der Schlacht­hof müsse der Au­to­bahn wei­chen», sagt der ehe­ma­lige Metz­ger, wäh­rend sein Blick über den In­nen­hof und das ge­gen­über­lie­gende Ge­bäude schweift.

Im Kel­ler­raum, wo sich die Cave des Gour­mets ein­ge­mie­tet hat, sei einst die Salze­rei ge­we­sen. Er zeigt auf die dar­über lie­gen­den Me­tall­tü­ren, da­hin­ter hät­ten sich ver­schie­dene Kühl­räume be­fun­den. Um die Ar­beits­wege zu ver­kür­zen, seien die Schlacht­hof­ge­bäude durch un­ter­ir­di­sche Gänge mit­ein­an­der ver­bun­den gewesen…

Schnell wird klar: Hier spricht ei­ner, der nicht nur die ver­bor­gens­ten Win­kel des Schlacht­hofs kennt, son­dern auch vie­les weiss, das längst ver­ges­sen schien. Die Neu­gier ist geweckt.

Zwei Wo­chen spä­ter nimmt uns Jean-Louis Burk­hardt mit auf eine Reise in die Ver­gan­gen­heit. Wir tref­fen uns vor dem al­ten Schlacht­ge­bäude, wo sich heute Car­nals Zelt-La­ger­halle be­fin­det. Nach der Mo­der­ni­sie­rung des Schlacht­be­triebs An­fang der 1970er Jahre, seien hier nur noch Pferde ge­schlach­tet wor­den, er­zählt Burk­hardt. Gleich beim Ein­gang führt eine Treppe ins obere Stock­werk, wo sich die Du­schen und Gar­de­ro­ben für die städ­ti­schen Mit­ar­bei­ter befanden.

Die rund 70 Ar­bei­te­rin­nen und Ar­bei­ter im Bie­ler Schlacht­hof hat­ten vier ver­schie­dene Ar­beit­ge­ber: Ein Teil der Be­leg­schaft war beim Metz­ger­meis­ter­ver­band an­ge­stellt, an­dere bei der Firma Bell, bei Darm­händ­ler Gu­gel­mann oder bei der Stadt Biel. Jean-Louis Burk­hardt ge­hörte zu je­nen, die ih­ren Lohn von der Stadt be­zo­gen. Er war nach sei­ner Metz­ger­lehre, die er im Fri­bour­ger See­be­zirk ab­sol­viert hatte, nach Biel ge­kom­men und ar­bei­tete von 1969 bis zur Schlies­sung 1992 im Schlachthof.

«Ich liebte meine Ar­beit, wir wa­ren eine wun­der­bare Equipe», schwärmt Burk­hardt, wäh­rend er uns wei­ter führt. Er zeigt auf den gros­sen Platz hin­ter dem Heiz­raum, wo die Bau­ern einst das Vieh an­lie­fer­ten. Von dort wurde es über eine Rampe ins Ge­bäude ge­trie­ben, in dem sich heute das Holz­bild­hauer-Ate­lier von Chris­tian Ry­ter be­fin­det. Jean-Louis Burk­hardt zeigt uns den Ver­bin­dungs­gang, der vom Stall di­rekt zur Schlacht­bank führte.

 

Wir ge­hen wei­ter und be­tre­ten den Raum mit der im­po­san­ten Hei­zung. Man brauchte den Dampf aus der Kes­sel­an­lage vor al­lem für die Boi­ler und Brüh­bot­ti­che in der Schlacht­halle. «Da­mals ha­ben wir mit Schweröl ge­heizt. Um das Feuer zu ent­fach­ten, fügte man ein Pu­der bei», er­in­nert sich Burk­hardt. An der Wand hängt noch eine Ge­brauchs­an­lei­tung, ob­schon der Ofen schon seit Jah­ren nicht mehr in Be­trieb ist.

Durch eine schmale Tür tre­ten wir wie­der ans Ta­ges­licht. Burk­hardt er­klärt uns, wo frü­her die Kuttle­rei so­wie ein Bü­ro­ge­bäude ge­stan­den ha­ben und zeigt auf das Holz­haus am Rande des Are­als: «Hier war das Büro der Firma Gu­gel­mann, Sonja ar­bei­tete hier – ih­ren Nach­na­men habe ich nie ge­kannt. Und in den Ge­bäu­den aus­ser­halb des Are­als, auf dem Park­platz, wurde aus Käl­ber­mä­gen Lab hergestellt.»

 

 

Dann ste­hen wir vor dem ho­hen weis­sen Ge­bäude mit dem cha­rak­te­ris­ti­schen Dach, wo sich die Firma Ba­ro­nello – Ma­le­rei und Gip­se­rei – ein­ge­mie­tet hat. Das grosse Ein­gangs­tor sei neu, sagt Burk­hardt und geht auf die Me­tall­tür zu, die er noch aus sei­nen Schlacht­hof­jah­ren kennt. Er drückt die Tür­falle und stellt ent­täuscht fest, dass ab­ge­schlos­sen ist. Im glei­chen Mo­ment fährt ein Fir­men­wa­gen vor. Jean-Louis Burk­hardt er­greift die Ge­le­gen­heit und fragt den Mann im Wa­gen, ob er ei­nen Blick ins In­nere des Ge­bäu­des wer­fen dürfe. «Ich habe hier ge­ar­bei­tet, bis 1992 – Sie wa­ren da­mals wohl noch gar nicht auf der Welt», sagt er zum jun­gen Ar­bei­ter, der uns be­reit­wil­lig die Tür öffnet.

 

Im In­nern sind wir erst ein­mal sprach­los – und stau­nen. Wir über die Di­men­sio­nen die­ser Halle, die wir bis­her nur von aus­sen ge­kannt ha­ben, Jean-Louis Burk­hardt über die Ver­än­de­run­gen und das Feh­len der eins­ti­gen Ein­rich­tun­gen. «Das wa­ren teure In­stal­la­tio­nen – sie ha­ben al­les weg­ge­nom­men… Was wohl da­mit ge­sche­hen ist? Ver­mut­lich ist es im Alt­ei­sen ge­lan­det», sin­niert er.

An­läss­lich der Mo­der­ni­sie­rung des Schlacht­be­triebs wurde hier 1972 eine Hän­ge­schlacht­vor­rich­tung ein­ge­rich­tet. An der De­cke er­kennt man noch die Über­reste der Be­fes­ti­gungs­ein­rich­tun­gen so­wie die Lö­cher für die Dampf­abzüge, an der Wand die Durch­gänge vom Schlacht- zum Kühl­raum. Hei­zung habe es hier keine ge­ge­ben – wenn man im Win­ter die Tür öff­nete, sei der Bo­den, we­gen der ho­hen Luft­feuch­tig­keit, je­weils so­fort vereist.

 

Jean-Luis Burk­hardt zeigt uns auch, wo das Vieh her­ein­ge­kom­men ist, wo man die Tiere ge­tö­tet hat, wo der Brüh­bot­tich stand. «Ich ar­bei­tete meist ganz hin­ten, am Ende der Schlacht­bahn, bei der Waage» er­zählt er uns. Das sei ein in­ter­es­san­ter Job ge­we­sen, weil er auch da­für sor­gen musste, dass die Pa­piere für das Schlacht­vieh aus­ge­füllt und an die zu­stän­di­gen Stel­len beim Bund und den Kan­to­nen wei­ter­ge­lei­tet wur­den. Da­durch sei er mit der gan­zen Schweiz in Kon­takt gekommen.
Gerne er­in­nert sich Jean-Louis Burk­hardt aber auch an die Kon­takte zu den Bau­ern, Vieh­händ­lern und Metz­gern der Re­gion. Mit der Schlies­sung des Schlacht­hofs sei diese Ge­mein­schaft, das ganze bis­he­rige Fleisch­ver­sor­gungs­sys­tem, zer­stört wor­den, be­dau­ert er. Zu den Zei­ten, als der Schlacht­hof noch in Be­trieb war, such­ten die Metz­ger die Tiere, de­ren Fleisch sie in ih­ren Lä­den ver­kau­fen woll­ten, bei den Bau­ern noch sel­ber aus. An­schlies­send brach­ten diese die aus­ge­wähl­ten Schweine und Käl­ber zur Schlach­tung nach Biel.

Diese Zei­ten sind end­gül­tig vor­bei. Ende des 20. Jahr­hun­derts schloss ein Schlacht­hof nach dem an­de­ren seine Pfor­ten, eine Metz­ge­rei nach der an­dern ging ein. «Heute muss sämt­li­ches Vieh aus der Re­gion und so­gar aus der ge­sam­ten West­schweiz für die Schlach­tung zum Bell-Schlacht­hof in Oen­sin­gen trans­por­tiert wer­den», fasst Burk­hardt zu­sam­men. Heute sei al­les zen­tra­li­siert – im Ge­gen­satz zu frü­her, wo die Schlacht­höfe je­weils für die re­gio­nale Ver­sor­gung zu­stän­dig waren.

Für den Wei­ter­be­trieb des Bie­ler Schlacht­hofs wä­ren An­fang der 1990er Jahre In­ves­ti­tio­nen in Mil­lio­nen­höhe not­wen­dig ge­we­sen. Der da­für not­wen­dige Kre­dit sei je­doch ab­ge­lehnt wor­den, er­zählt Burk­hardt. Trotz­dem sei die end­gül­tige Schlies­sung im­mer wie­der hin­aus­ge­scho­ben wor­den. Die Metz­ger, Vieh­händ­ler, Bau­ern und Schlacht­hof­an­ge­stell­ten hat­ten bis zu­letzt für ih­ren Schlacht­hof gekämpft.

Ver­geb­lich. «Am 27. Ok­to­ber 1992, um 15.30 wurde der Be­trieb de­fi­ni­tiv ge­schlos­sen. Ich er­schien an die­sem denk­wür­di­gen letz­ten Tag in weis­sem Kit­tel, weis­sem Hemd und mit Kra­watte zur Ar­beit. – Und ge­neh­migte mir eine Zi­garre», sagt Jean-Louis Burk­hardt und blät­tert im mit­ge­brach­ten Fo­to­al­bum, um uns sein letz­tes Schlacht­hof­bild zu zeigen.

 

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